In der Kinder-Uni

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Es fühlt sich schon merkwürdig an: gut 200 Kinder im Vorlesungssaal und ich versuche zu erklären, warum wir streiten und was alternative Fakten sind. Im Saal ist es viel lauter als sonst, man muss erst mal gegen den Lärm ankommen, immer wieder aber auch sind die kleinen Zuhörer voll bei der Sache und folgen gebannt dem Vortrag. Schon seit 2002 gibt es in Tübingen eine Kinder Uni und von Tübingen aus hat sich die Idee in der ganzen Republik verbreitet. Das Ziel war und ist, Kinder mit aktueller Forschung in Verbindung zu bringen und Distanzen und Barrieren abzubauen. In Tübingen sind es Sieben- bis Zwölfjährige, denen alle zwei Wochen während des Semesters eine Vorlesung angeboten wird. Auch nach 16 Jahren, also 32 Semestern, läuft das Projekt immer noch so gut, dass sich selbst an einem wunderbaren Sommertag eine große Menge von Zuhörern im Tübinger Kupferbau einfindet und in der schlimmsten Juni-Hitze auf das Freibad verzichtet.

„Warum streiten wir?“ heißt das Thema, das ich mir vorgenommen habe. Ein Thema, das die Rhetorik seit 2500 Jahren umtreibt, von Agonalität und Erkenntnisinteressen kann man in diesem Kontext sprechen, von antiken Sophisten oder von Jürgen Habermas und empirischer Psychologie. Aber wie macht man das vor siebenjährigen Kindern? Mein Sohn Fred (selbst sieben) war natürlich ein wichtiger Ratgeber im Vorfeld und so ging es um Ninjago-Karten, Fußballspielen, aber auch um Migration, Trump und alternative Fakten.

Im Grunde ist die Sache dann doch ganz einfach, wenn man dem Jugend präsentiert-Ansatz folgt: man muss von den Zuhörern, also den Adressaten her denken, versuchen komplexe Themen mit Beispielen aus der Lebensrealität der Kinder zu illustrieren. Dann wird schnell klar, wenn etwa ein Kind mit einem Fußball vor einer zerbrochenen Scheibe steht, dass es viel gibt, worüber man streiten kann: „Wer aus der Fußballgruppe ist schuld?“, „War es die unerreichbare Flanke des einen?“, „Hat der andere den leichten Ball einfach an sich vorbei fliegen lassen?“, „Zahlt den Schaden das Kind durch Taschengeldabzug, die Eltern oder die Versicherung?“ – Über all das lässt sich streiten, nicht aber darüber, dass das Fenster kaputt ist. Fakten können nicht bestritten werden und die kaputte Scheibe zeigt, wie absurd die Idee von alternativen Fakten ist.

Warum aber streiten wird nun? Das hat häufig mit unterschiedlichen Perspektiven zu tun, die verschiedene Menschen auf eine Sache einnehmen. Streit entsteht aber aus Stress und Frustration oder weil wir uns von anderen abgrenzen wollen. Viele Kinder waren am Ende nämlich erfreut zu hören, dass man sich streiten darf. Indem ich mich streite und eine Position beziehe, definiere ich auch, wer ich bin. Auch der Streit macht uns zu Menschen. Frei nach Sokrates, der einmal zu einem Mann, der ihm im hellen Tageslicht gegenüberstand, sagte: „Rede, damit ich dich sehen kann!“

Foto: © Ulrich Janssen, Schwäbisches Tagblatt

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Prof. Dr. Olaf Kramer

Leitung Forschungsstelle //

Universität Tübingen